27.05.2021 / LA 21

KINDER UND DIE STRASSE

Kennen Sie das mulmige Gefühl, wenn Sie Volksschulkinder dabei beobachten, wie sie eine ungeregelte Kreuzung überqueren oder Teenies, die mit ihrem Scootern in Schlangenlinien durch Passant*innen flitzen. Auch gibt es manchmal vielleicht einen leise hochsteigenden Unmut, wenn ein paar Jugendliche auf dem Bankerl unter Ihrem Fenster lautstark Tratschen und Lachen. Das sind Szenen, die sich tagtäglich in unseren Straßen und Gassen abspielen. Und sie haben eines gemein: Für junge Menschen gibt es zu wenig Platz in unserer Stadt.

 

Um diesem Thema mehr Aufmerksamkeit zu geben, lud der Verkehrsclub Österreich (VCÖ) zu der Fachkonferenz „Kindgerechtes Verkehrssystem“ ein. Die vortragenden Expert*innen aus dem In- und Ausland waren sich einig, dass das derzeit vorherrschende Verkehrssystem die Mobilität von Kindern stark einschränkt

 

Kinder brauchen Bewegung

Die Österreichische Bewegungsempfehlung rät, wie auch die WHO, zu täglich mindestens 60 Minuten Bewegung für Kinder und Jugendliche.  Alle Vortragenden wiesen darauf hin, wie positiv sich ausreichende körperliche Betätigung auf Gesundheit, Entwicklung und Wohlbefinden auswirkt und häufigen Erkrankungen, wie Adipositas und Kurzsichtigkeit entgegenwirkt.

 

Fakt ist, dass Kinder und Jugendliche in Österreich zu wenig Bewegung machen. Laut dem VCÖ-Factsheet: Mehr Platz für aktive und kindgerechte Mobilität schaffen es weniger als ein Drittel der unter 18-jährigen den genannten Richtwert zu erreichen. Dabei ist zu bemerken, dass Jugendliche und Mädchen noch weniger Bewegung machen, als jüngere Kinder und Buben.

 

Kinder im Verkehr

Höfflin1 erklärt, dass die Aktionsraumqualität (definiert durch Sicherheit, Zugänglichkeit, Gestaltbarkeit, Interaktionschancen) und der Bewegungsradius durch die Gestaltung des Wohnraumes stark beeinflusst werden. Folglich werden Kinder durch das heutige, autozentrierte Verkehrssystem in ihren Spiel- und Mobilitätsbedürfnissen massiv eingeschränkt.

 

Die Möglichkeiten für ein selbständiges und aktives Mobiliätsverhalten nehmen stetig ab und münden in unerwünschten Entwicklungen wie Elterntaxis. Neben den gesundheitlichen Folgen prägt, wie Schwendinger2 zu bedenken gibt, das in der Kindheit erlernte Mobilitätsverhalten die Verkehrsmittelwahl für das restliche Leben.

 

Im Sinne eines Universal Designs für ein zukunftsfähiges Verkehrssystem sind die Bedürfnisse von Kinder genau der richtige Gradmesser. Denn kindergerechte Freiräume kommen allen Menschen zu Gute!

 

Verkehrsraum als Lebensraum

Eine grundlegende Haltungsänderung zur Funktion von urbanen Freiräume ist notwendig. Straßen, Gassen und Plätze können nicht mehr in erster Linie als Transitstrecken motorisierten Verkehrs verstanden werden. Alle Fachleute waren sich einig, dass die Verkehrssysteme an die Bedürfnisse der Kinder angepasst werden sollen und nicht umgekehrt. Stark3 plädiert für die Weiterentwicklung vom Verkehrsraum zu einem multifunktionalen Lebens- und Mobilitätsraum. Um dies zu ermöglichen kann auf unterschiedlichen Ebenen angesetzt werden:

 

  • Verkehrsberuhigung und Verkehrsreduktion: In Wien gibt es hierfür unterschiedliche Modelle, wie z.B. Thempo-30-Zonen, Wohnstraßen, Begegnungszonen, Fußgängerzonen sowie temporär gesperrte Fahrbahnen für Schulstraßen, Spielstraßen. Höffin erklärt, dass sich damit die Anzahl von selbständigen Kinder auf der Straße erhöht und die Unfallgefahr mit abnehmender PKW-Geschwindigkeit deutlich abnimmt.
     
  • Verbesserung der Infrastruktur: In einem zusammenhängenden, barrierefreien Fußwegenetz mit breite Gehsteigen und entsprechende Querungshilfen (z.B. Ausweitung von Halte- und Parkverbot vor Schutzwegen, Übersichtlichkeit, lange Grünphasen) können Kinder selbständig und sicher unterwegs sein. Abwechslungsreiche Spiel- und Verweilmöglichkeiten abseits von Parks ermöglichen einen Aufenthalt im öffentlichen Raum. Dort finden auch Jugendliche informelle Treffpunkte und Rückzugsorte.
     
    Mol4 und Wegmüller5 wissen, dass eine gute Radinfrastruktur mit einem durchgängigen Radwegenetz, baulich getrennten Radwegen, bevorrangten Fahrradstraßen wie auch Abstell- und Reparaturmöglichkeiten Kindern und Jugendlichen ermöglichen, ihren aktiven Bewegungsradius zu erweitern. Auch haben sie gute Erfahrungen mit einem niederschwelligen Leihradsystem für junge Menschen gemacht.
     
  • Wissen- und Bewusstseinsbildung: Stark erklärt, dass für eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema die breite Akteursvielfalt mit ihren unterschiedlichen Kompetenzen und Bedürfnissen beachtet werden muss. Eine frühzeitige und lebenslange Verkehrs- und Mobilitätserziehung mit zielgerichteten Angeboten erhöht die Sensibilisierung für Verkehrssysteme und das Bewusstsein für deren Qualität. Wie Wegmüller beschreibt, ist die Beteiligung von Kindern und anderen Akteur*innen ein wesentlicher Bestandteil bei der Entwicklung neuer Konzepte.
     
    Dabei sind Bürger*inneninitiativen und engagierten Akteur*innen eine wichtige Ressource. Diese Menschen sind gut vernetzte Alltagsexpert*innen, die sich aktiv für Verbesserungen in ihrem Umfeld einsetzten und Veränderungen initiieren. Damit kann buttom-up eine breite Bevölkerung für ein kindergerechtes Verkehrssystems bzw. Mobiliätsverhalten gewonnen werden.
     
  • Rahmenbedingungen: Stark erklärt, dass die laufende Forschung mit Studien, Erhebungen und Pilotprojekte immer wieder neue Erkenntnisse bringt oder bestehende Theorien zum Verkehr und der Mobilität untermauert. Auf diesem Wissen werden Richtlinie, wie die RVS6 und Strategieplänen wie der Wiener Kinder- und Jugendstrategie erstellt. Auch hier wurde festgeschrieben, dass z.B. das „Spiel- und Bewegungsangebot im öffentlichen Raum verbessert“ oder „das Angebot an konsumfreien und kinder- oder jugendgerechten Zonen im öffentlichen Raum ausgeweitet“ werden soll.7

 

Letztlich stellt sich die Frage: „Wo hakt es?“ Nach der Diskussion der Expert*innenrunde war klar, dass es einen breiten Kenntnisstand und entsprechende Rahmenbedingungen für die Umsetzung von Maßnahmen für ein kindergerechtes Verkehrssystem gibt. Die durchwegs positiven Auswirkungen auf die Mobilität von Kindern- und Jugendlichen wie auch auf den gesamten Lebensraum Stadt sind bekannt. Nach einem Jahr Covid-Pandemie inklusive Ausgangssperren ist auch im letzten Wohnzimmer angekommen, dass Handlungsbedarf besteht. Menschen brauchen mehr Platz fürs Verweilen, Bewegen, Spielen, Gehen, und Radfahren. Deshalb muss die Funktionen des urbanen Straßenraumes neu definiert werden.

Unterschiedliche Initiativen wie „Platz für Wien“, aber auch Institutionen wie die Mobilitätsagentur und die Lokale Agenda Wien engagieren sich für eine Neudefinierung von Straßenfreiräumen. Um ein Bewusstsein für eine kindgerechte Infrastruktur bei Schüler*innen, Lehrenden,  Eltern und der Politik zu schaffen wurde von der Agenda Währing in Zusammenarbeit mit dem Bildungsgrätzl Ebner-Inklusiv-Eschenbach eine Workshop-Reihe zur Schulwegsicherheit und -qualität angeboten. Themen wie Fuß- und Radwege wie auch Aufenthaltsbereiche der Schüler*innen, Konfliktpunkte im Straßenverkehr und Ansprüche und Gestaltungsvorschläge der Kinder und Jugendlichen an den öffentlichen Raum wurden diskutiert. Die Ergebnisse dienen als Grundlage für Verbesserungen, die gemeinsam mit dem Bezirk umgesetzt werden sollen. Ein weiteres Beispiel für die Beteiligung von Bürger*innen ist die Mobilitätsplattform der Agenda Liesing in Siebenhirten. Dort wird von Bewohner*innen initiiert, mit Politik, Verwaltung und Expert*innen an Detail- und Gesamtlösungen für eine gerecht verteilte Verkehrsinfrastruktur gearbeitet. Oft mangelt es bei Verkehrsteilnehmer*innen an Wissen über Regeln, z.B. die über verkehrsberuhigten Straßen. So hat sich eine Initiative der Agenda Josefstadt zum Ziel gesetzt das Bewusstsein für das Konzept Wohnstraße zu schärfen. Auch leisten den Agenda Wieden mit temporären Spielstraßen einen Beitrag zu „kindertauglichen“ Straßen.

 

Somit sind die Weichen gestellt und letztlich sind die Entscheidungstragenden aller Ebenen in Zusammenarbeit mit den unterschiedlichen Akteur*innen gefordert neue Prioritäten zu setzen, um mutig, zielstrebig und konsequent die Umsetzung eines kindergerechten und damit eines universellen Verkehrssystem voranzutreiben. Damit gestalten wir uns eine Stadt, in der jede*r seinen Platz hat – Groß und Klein, Alt und Jung, Langsam und Schnell und alles dazwischen.

 

Wien, Mai 2021
Katharina Kvasnicka

 

 
Bild:

Tim Dornaus

 

Quellen:

1) Peter Höfflin, EH Ludwigsburg
2) Michael Schwendinger, VCÖ – Mobilität mit Zukunft
3) Juliane Stark, BOKU Wien
4) Norbert Mol, BYCS Amsterdam
5) Anne Wegmüller, Fachstelle SpielRaum Bern
6) Richtlinien und Vorschriften für das Straßenwesen
7) Schwarzmayr, Bettina und Beweis, Alexandra (2020): Die Wiener Kinderund Jugendstrategie 2020 – 2025. Wien: Magistrat der Stadt Wien